Zum Problem der Fahrerlaubnis bei Patienten mit homonymer Hemianopsie – gesetzliche und neurologisch-visuelle Parameter

Zangemeister WH: in: Fahreignung bei Neurologischen Erkrankungen, ed. Ch Dettmers und C Weiller, Stuttgart 2004; pp.260-265

Textsprache des Originals: Deutsch

Ausgangspunkt für unsere Beurteilung muss die jetzige Rechtslage sein. Diese legt fest, dass die perimetrisch augenärztlich evaluierte Gesichtsfeldprüfung mit statisch/dynamischen Zielpunkten bei unbewegtem Patienten eine Gesichtsfeldeinschränkung von ca. 70° auf einer Seite nicht überschreiten darf. Dieses ergibt sich daraus, dass der Verlust eines Auges bei einem unterstellten Gesamtgesichtsfeld horizontal von 190° (=± 95°) für das Führen eines Kfz erlaubt ist; d. h. 120° Gesichtsfeld eines Auges sind ausreichend.

Hingegen sind weniger als 120° nicht mehr ausreichend, wie dieses in der Regel bei homonymen Hemianopsien der Fall ist, nämlich bei dieser Betrachtungsweise 95°.

Nicht berücksichtigt sind bei dieser Beurteilungsweise die neurologisch-neurovisuellen Parameter, welche für das Führen von Kraftfahrzeugen relevant sind. Hierzu zählen die Ausprägung der Hemianopsie (mit oder ohne sogenanntes Sparing der Fovea) mit oder ohne Einbeziehung der zentralen 10 bis 15°, d. h. also einer mehr peripher gelegenen Hemianopsie; Beurteilung der augen- und kopfmotorischen Verfügbarkeit, Beurteilung der visuellen, sakkadischen und effektiven motorischen Latenz, Beurteilung von Attenz und Kognition generell, soweit sie visuell relevant wird.

Hieraus ergibt sich, dass die bisherige gesetzliche Regelung zwar den Vorteil einer einfachen und klaren Regelung hat; es ergibt sich aber auch, dass diese einfache und klare Regelung eine künstliche Simplifizierung von Verhältnissen ist, die mit heutigen Mitteln differenzierter beurteilt und auch teilweise therapiert werden können. Das zeigt sich auch daran, dass innerhalb der EU diesbezueglich erhebliche Unterschiede bestehen. So ist die Reghelung z.B. in Belgien diesbezueglich besser an die Realitaet angepasst.

Welche Gründe sprechen nun für und gegen die Erteilung einer Fahrerlaubnis bei Hemianopikern?

Gegen die Erteilung einer Fahrerlaubnis spricht wesentlich, dass eine komplette Blindheit von 70° nach einer Seite, entweder in beiden Quadranten Fahrerlaubnis bei Patienten mit homonymer

oder in einem der beiden, im bewegten Verkehr zum Nicht-Sehen bzw. Nicht-Beachten von Hindernissen oder allgemein bewegten wichtigen Zielen führen muss. Das gilt auch, wenn alle anderen o. g. Parameter wie Kognition und Attenz bzw. Reaktionszeiten in Ordnung sind.

Für die Erteilung einer eingeschränkten Fahrerlaubnis sprechen aus unserer Sicht eine Reihe von Gründen: Ein wesentlicher Grund ist der Einwand, dass die bisherige Regelung auf zu undifferenzierten diagnostischen Aussagen basiert. Sie beruht auf einer rein augenärztlich statischen Untersuchung des Gesichtsfeldes, bei der Kopfbewegungen nicht erlaubt sind. Dieses ist offensichtlich eine unnatürliche Situation, die sich im normalen Fahralltag nicht ergibt. So werden z. B. schon die Fahrschüler intensiv angehalten, vor Überholmanövern den Kopf aktiv nach links zu drehen, um den toten Winkel auf diese Weise zu überwinden.

Insgesamt ergibt sich aus den vorstehenden Überlegungen, dass die bisherige Regelung einer differenzierteren Ausformung bedarf. Die eingeschränkte Vergabe einer Fahrerlaubnis an Patienten mit Hemianopsie sollte daher an entsprechende Voruntersuchungen mit Quantifizierungen der Daten für Reaktionszeiten, Attenz, neuroophthalmologische Beurteilung der Blickkoordination  geknüpft sein, zusätzlich zu Fahrproben am Simulator oder im Verkehr. Die hier nur für Hemianopsie-Patienten dargelegten Überlegungen lassen sich in analoger Weise auch für Patienten mit anderen visuellen, teilweise auch akustischen und kopfmotorischen Defiziten darstellen und ggf. darauf anwenden.